Skip to main content

Wie das Machtthema zu meinem Arbeitsschwerpunkt wurde

„Macht war lange Zeit ein Fremdwort für mich. Wie viele meiner Zeitgenossen war auch ich beseelt vom Gedanken, man könne eine Welt des friedlichen Zusammenlebens schaffen. Menschen, die nach Macht streben, waren mir suspekt. Ich war fasziniert von Ideologien, die das Gute im Menschen ansprechen. Christentum, Sozialismus, Psychologie und spirituelle Bewegungen versprachen mir jeweils auf ihre Weise "das Goldene Zeitalter", nämlich Gerechtigkeit auf Erden und machtfreie Beziehungen. So engagierte ich mich als junge Lehrerin für eine partnerschaftliche, emanzipatorische, „machtfreie" Pädagogik und in politischen Bewegungen für eine gewaltfreie Gesellschaft.

Zu meinem großen Erstaunen erlebte mich meine Umgebung damals jedoch keineswegs als machtlos. Es gab Menschen, die mein Verhalten als Machtstreben bezeichneten – und das, obwohl ich immer nur das Beste für alle wollte. Erst viel später – ich war mittlerweile Psychotherapeutin geworden – begann ich meine Konflikte zu verstehen. Durch die Arbeit mit meinen Klientinnen und Klienten hatte ich Gelegenheit, zahlreiche Lebensgeschichten kennen zu lernen, deren Probleme zwar unterschiedlich waren, durch die sich jedoch meist derselbe rote Faden zog: Die Verweigerung der Macht. Im Laufe der Beratung verbesserten sich meist sowohl ihre Leistung als auch ihre Lebensqualität, wenn es den Menschen gelang, die Sehnsucht nach einer machtfreien Welt als Illusion zu identifizieren und ihre eigenen Machtquellen zu erschließen. Im Wirtschaftscoaching erlebte ich Klienten, die als Entscheidungsträger mit verschiedensten Machtformen umzugehen hatten. Sie berichteten von der Kehrseite der Medaille: dass hohe Funktionen keineswegs mit großer persönlicher Freiheit verbunden sind, dass Strategie und Taktik zum Tagesgeschäft gehören und dass man ständig kämpfen und auf der Hut sein muss - sei es, um Ziele durchzusetzen oder die eigene Position zu verteidigen. Die Belastungen der Klienten verringerten sich, sobald sie erkannt hatten, wie mit der Macht maßvoll und kraftvoll umzugehen ist.

Die Vielfalt der Beispiele, die sich in zwanzig Jahren Coaching ansammelten, ermöglichte schließlich die Erkenntnis, dass überall dieselben allgemeinen Prinzipien wirksam sind, und ich begann ab 1998 ein systematisches und nachvollziehbares Modell der Machtmechanismen zu entwickeln. Das Ziel war, die helle Seite der Macht bewusst wahrzunehmen und einzusetzen, aber auch durch eine differenzierte Betrachtungsweise ihre dunklen Seiten, wie Kampf, Gewalt und Machtmissbrauch zu analysieren. Mit dieser angewandten Machttheorie verfolge ich einen didaktischen Anspruch: Ich möchte dazu beitragen, dass die Mechanismen der Macht vor dem Hintergrund der Geschichte, der Ethik und der Geschlechterrollen möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden, damit sie sich in einem emanzipatorischen Akt gegen jede Art von Machtmissbrauch wehren und ihre eigenen Ziele erfolgreich umsetzen können.“

© Christine Bauer-Jelinek, aus „Die helle und die dunkle Seite der Macht"